Projektpublikationen in der Reihe
»IVS SAXONICO-MAIDEBVRGENSE IN ORIENTE«
Elemér Balogh (Hg.). Schwabenspiegel-Forschung im Donaugebiet. Konferenzbeiträge in Szeged zum mittelalterlichen Rechtstransfer deutscher Spiegel. Berlin, Boston 2015
(=IVS SAXONICO-MAIDEBVRGENSE IN ORIENTE. Bd. 4)
Vorwort
Rechtsbücher sind typische Merkmale der mittelalterlichen europäischen Rechtskultur, und zwar in mehrerlei Hinsicht. Die seit dem frühen Mittelalter sich nur langsam ändernden Rechtsverhältnisse ermöglichten zwar noch keine Werke auf der Grundlage von juristischer Abstraktion, doch wurden die ersten Schritte hierzu bereits gemacht. Ein erster Schritt war stets die schriftliche Fixierung der grundlegenden Normen. Erst wenn diese Basis vorhanden ist, können auch Fragen nach der weiteren Entwicklung einer Gesellschaft gestellt werden. Auch wenn die Antworten auf diese Fragen im Grunde sehr unterschiedlich ausfallen, lassen sich doch entscheidende Parallelen feststellen.
Die mittelalterlichen Rechtsaufzeichnungen weisen ein weiteres Charakteristikum der europäischen Rechtstradition auf, das dieses Rechts auszeichnet: Ein zentrales Anliegen dieses Rechts ist es, den Wunsch der Gesellschaft, die Zukunft durch Normen zu steuern, umzusetzen. Und zwar durch Normen, die erprobt sind, die bereits eine Autorität genießen und die somit für tauglich erachtet werden, auch die Verhältnisse der Zukunft im Sinne der Gesellschaft positiv zu beeinflussen. Die Zukunft wurde dadurch planbar und unterlag so mehr und mehr der menschlichen Kontrolle. Das war das höchste Ziel, die Mission des mittelalterlichen, im Geist der Bibel lebenden Menschen: Die Welt unter seine Herrschaft zu bringen. Die Weltordnung war vom schöpferischen Gott gegeben, die konkreten Verhältnisse zwischen den Menschen und deren Steuerung und Normierung waren hingegen relativ frei zu regeln.
Die germanischen Völker hatten jahrhundertelang in Nachbarschaft der römischen Kultur gelebt. So hatten sie genug Zeit, um unter anderem die Wichtigkeit des Schrifttums im Rechtswesen zu erkennen. Verba volant, scripta manent − die Bedeutung dieses antiken Proverbiums zeigt sich nirgendwo so deutlich wie im Recht. Die zweifelsfreie Gewissheit der Tatsachen und die Sicherung ihrer Kontinuität in der Zeit, all das ist von der juristischen Schriftlichkeit zu erwarten. Die Überlegenheit der schriftlichen Rechtskultur gegenüber der mündlichen wurde den germanischen Völkern Jahrhundert für Jahrhundert vor Augen geführt. Die leges barbarorum haben − neben sehr wichtigen königlichen Normen − die wichtigsten alten Stammesrechte (Volksrechte) überliefert. Man kann sagen, dass diese Rechtsaufzeichnungen einen wesentlichen Teil der juristischen Vergangenheit der germanischen Völker repräsentieren und bis heute erhalten haben. Ein ähnliches Erbe fehlt in der ungarischen Rechtstradition fast völlig, da diese nur über indirekte Quellen (von persischen, arabischen und byzantinischen Autoren) verfügt.
Die Arbeit an den Rechtsaufzeichnungen wurde im hohen Mittelalter mit großer Energie vorangetrieben. Die erwähnten leges, die im frühen Mittelalter noch auf der Grundlage der Stammesrechte entstanden sind, gerieten seit dem 13. Jahrhundert immer mehr unter den Einfluss der historischen Entwicklung jener Zeit: der Territorialität und des Feudalismus. Beides sind mittelalterliche europäische Phänomene. Die Völker in Europa lebten in unzählbaren kleineren und größeren Territorien, wie z. B. die Sachsen, die nicht nur in einem Land, sondern in mehreren Ländern beheimatet waren. Die einzelnen Länder hatten aber alle mehr oder weniger unterschiedliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Verhältnisse. Folglich waren auch die wesentlichen Rechtsnormen verschieden. Der Feudalismus war eine wichtige Entwicklungsstufe in der europäischen Geschichte. Ihm war eine tiefe, innerliche Personalität eigen, die dann auch rechtlich sehr umfassend reguliert wurde.
Eine Autorität war allgemein unumstritten: das Christentum und seine Kirche. Die Kirche agierte im Mittelalter aber relativ eigenständig und gefährdete somit im Grunde nicht die Integrität des weltlichen Rechts, also des Gewohnheitsrechts. Das römisch-kanonische Recht, eine Art von ius commune, genoss in der Rechtspflege der heiligen Stühle europaweit Souveränität, so dass das gelehrte Recht und die territorialen sowie feudalen Rechte jahrhundertelang friedlich nebeneinander existieren konnten. Das kanonische Recht war in Europa weitgehend einheitlich, die weltlichen Rechte dagegen völlig verschieden.
Der Rechtstransfer des kanonischen Rechts wurde zentral − von Rom aus − konzipiert und gesteuert. Im Falle der weltlichen Rechte vollzog er sich eher spontan, weitgehend nebenbei im Zuge der verschiedenen Migrationsbewegungen und noch mehr durch die sich immer mehr ausweitenden Handelskontakte. Die historische Erfahrung zeigt, dass immer die entwickelten Gebiete einen Einfluss auf die Verhältnisse der weniger entwickelten Regionen ausüben. Dies lässt sich auch beim Vergleich zwischen den historischen deutschen Rechtsgebieten und Ungarn erkennen. Der Einfluss des Lehnswesens auf Ungarn war sehr gering, weil die mittelalterliche ungarische Gesellschaft, besonders der Adel, seine traditionelle Struktur bewahrte, das Ständewesen aber völlig übernommen hatte.
Um herauszufinden, welche konkreten Parallelen und unterschiedlichen Lösungen sich im Hinblick auf die juristischen Belange in Ungarn und den deutschsprachigen Ländern entwickelt haben, hat der Lehrstuhl für Europäische Rechtsgeschichte der Universität Szeged in den Jahren 2008 und 2012 zwei internationale Konferenzen organisiert. Die Ernte, d. h. die vorzüglichen Beiträge dieser Tagungen finden sich in diesem Band, der dankenswerter Weise in die Reihe „IVS SAXONICO-MAIDEBVRGENSE IN ORIENTE“ aufgenommen wurde. Herausgeber dieser Reihe ist Prof. Dr. Heiner Lück, der auch das Forschungsvorhaben „Das sächsisch-magdeburgische Recht als kulturelles Bindeglied zwischen den Rechtsordnungen Ost- und Mitteleuropas“ an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig leitet. Auch findet man Heiner Lück sowie seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter − neben anderen deutschen und österreichischen Kollegen − als Referenten bei den genannten Tagungen. Es ist uns gelungen, einen weiten Kreis internationaler Forscher zu versammeln, um das Thema „Auswirkung des sächsischen bzw. schwäbischen Rechts auf das mittelalterliche ungarische Rechtsleben“ umfassend zu beleuchten.
Anlass der ersten Konferenz („Schwabenspiegel-Forschung im Donaugebiet“, am 29. Februar 2008) war der Beginn des Editionsprojekts von Prof. Dr. László Blazovich, dessen Ziel es ist, die wichtigsten mittelalterlichen deutschen Rechtsbücher ins Ungarische zu übersetzen. Sein Vorhaben war bereits mit der Übersetzung des Sachsenspiegels sehr erfolgreich, der dank der gemeinsamen Bemühungen von László Blazovich und József Schmidt seit 2005 auch auf ungarisch zu lesen ist.[1] Diese hochmittelalterliche deutsche Rechtsquelle galt zu ihrer Zeit als wichtigste gewohnheitsrechtliche Normensammlung. Einige ihrer Regeln waren auf deutschem Rechtsgebiet sogar noch bis zum Inkrafttreten des BGB (1900) gültig. Die Veröffentlichung der anderen, vergleichbar bedeutenden Rechtsquelle, dem Schwabenspiegel, war damals noch in Vorbereitung. Um die verschiedenen Fachprobleme noch vor der Publikation im einzelnen besprechen zu können, wurde beschlossen, eine rechtshistorische Konferenz mit den zuständigen deutschen Kollegen zu veranstalten.
Die Konferenzbeiträge boten einen sehr breiten rechts- und kulturgeschichtlichen Horizont.[2] Der Theologe Benyik György (Szeged) zeigte in seinem Referat die Berührungspunkte zwischen der Heiligen Schrift und dem Schwabenspiegel auf. Blazovich László (Szeged) stellte den Schwabenspiegel ausführlich vor und formulierte einige Anmerkungen zum Kaschauer Schwabenspiegel. Die deutschen Gäste haben zum einen je ein konkretes Rechtsinstitut des Schwabenspiegels analysiert: Heinz Holzhauer (Münster) das Strafrecht und Bernd Kannowski (Freiburg im Breisgau, heute Bayreuth) das Beweisrecht, zum anderen eine komparative Arbeit zwischen Sachsen- und Schwabenspiegel vorgetragen: Peter Landau (München) im Bezug auf die Königswahl und Heiner Lück (Halle an der Saale) mit einem allgemeinen Vergleich. Gernot Kocher (Graz) vermochte uns mit seinem bemerkenswerten Dia-Vortrag die Welt des Schwabenspiegels vor Augen zu führen.[3] Die abschließende Diskussion war sehr ertragreich und hat dazu beigetragen, dass die Schwabenspiegel-Übersetzung kurze Zeit später veröffentlicht werden konnte.[4]

Im Rahmen der zweiten Konferenz („Der Schwabenspiegel und andere Rechtsbücher im Donau-Gebiet“, 1.–2. März 2012) wurde die Problematik der mittelalterlichen Rechtsaufzeichnungen umfassend untersucht. Heiner Lück (Halle an der Saale) stellte zur Diskussion, ob noch die Ansicht zu vertreten sei, Rechtsbücher als private Leistungen zeitgenössischer Rechtskundiger anzusehen.[5] Bei genauerer Betrachtung zeige sich, dass die Entwicklung des Rechts sehr stark davon abhing, ob es einzelne ,Unternehmer‘ für wichtig erachteten, Rechtsnormen aufzuzeichnen. Dieser Ansatz ließ sich mit zahlreichen Indizien, methodischen und inhaltlichen, im Hinblick auf die Rechtsentwicklung belegen. Referenten aus der erwähnten Leipziger Forschungsgruppe haben zur Fragestellung der Tagung mit überlieferungsgeschichtlichen Beobachtungen (Wieland Carls), mit einem Wortvergleich anhand rechtshistorischer Texte (Inge Bily) sowie mit einer geschichtlichen Zusammenfassung der Rechtsbücherforschung in Ungarn (Katalin Gönczi) beigetragen. Mit der Problematik von Mündlichkeit und Rechtsaufzeichnung befasste sich Frank Eichler (Hamburg). Ausgewählte Rechtsinstitute wurden von mehreren Tagungsteilnehmern analysiert: Antal Tamás (Szeged) zeichnete die rechtliche Stellung des Richters nach, Blazovich László (Szeged) bot Überlegungen zum Erbrecht und Ulrike Müssig (Passau) zu letztwilligen Verfügungen in mittelalterlichen Rechts-, bzw. Schöffenbüchern. Im mittelalterlichen Ungarn geltende Rechtsbücher haben ebenfalls eine wichtige Rolle im Programm der Tagung gespielt. Hierzu äußerte sich Hamza Gábor (Budapest) im Hinblick auf das Tripartitum von Werbőczy. Bei Nikolicza Erika (Dunaújváros) stand das Ofner Stadtrecht im Zentrum ihrer Überlegungen. Gedeon Magdolna (Miskolc) bezog sich in ihren Betrachtungen auf das Rechtsbuch von Schemnitz und die Maximilianische Bergordnung und Szabó Béla (Debrecen) auf das ,Eigen-Landrecht‘ der Siebenbürger Sachsen. Ein besonderes Thema, die Rolle der Tiere bzw. ihre rechtliche Relevanz in Sachsen- und Schwabenspiegel beleuchtete Bernd Kannowski (Bayreuth). Koncz Ibolya Katalin (Miskolc) legte ihre Forschungsergebnisse zu den Wurzeln der Frauenrechte im Schwabenspiegel vor.

Wir alle − Konferenzteilnehmer, Zuhörer, Studentinnen und Studenten − sind den Rednern beider Konferenzen sehr dankbar dafür, dass wir durch sie die Gelegenheit bekamen, für einige Stunden die faszinierende Welt des Mittelalters, wenn auch nur bezüglich seiner rechtlichen Aspekte, erleben zu dürfen. Umso mehr bin ich Heiner Lück und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dankbar − namentlich genannt seien hier auch Claudia Krahnert M. A. und Kathleen Zeidler M. A. −, die sich der mühsamen und langwierigen Redaktionsarbeit angenommen haben. Ich hoffe, dass auch dieser Band ein Ziegel im monumentalen Gebäude der mitteleuropäischen Rechtskultur und damit ein Baustein für das Zusammenleben der heutigen europäischen Nationen wird.

Szeged, den 8. April 2015
Balogh Elemér
Fußnoten
  1. EIKE von Repgow, A Szász tükör [Sachsenspiegel 〈ungar.〉], 2005.
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  2. Obwohl die meisten Beiträge der ersten Konferenz bereits in den Acta juridica et politica 71, Fasc. 17.1–7 (2008), S. 519 –596 veröffentlicht sind, werden sie hier noch einmal mit abgedruckt, um sie einem größeren Kreis zugänglich zu machen, aber auch, um sie zusammen mit den Beiträgen der thematisch verwandten zweiten Tagung präsentieren zu können. Da die Literaturangaben in den Fußnoten vereinheitlicht wurden, nicht zuletzt, um ein Literaturverzeichnis aller Beiträge bieten zu können, kam ein reprographischer Nachdruck nicht in Frage. Der Inhalt der Beiträge wurde jedoch nur geringfügig redaktionell bearbeitet. Die Nachweise auf die Erstveröffentlichung finden sich zu Beginn der jeweiligen Artikel.
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  3. Dieser Vortrag ist bereits 2010 in überarbeiteter Form an anderer Stelle erschienen (KOCHER, Das Bild vom Recht im Schwabenspiegel, in: Beiträge zur Rechtsikonographie, Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde, Bd. 4, 1990, S. 75 –105).
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  4. BLAZOVICH, SCHMIDT (Hrsg.), A Sváb tükör, 2011.
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  5. Dieser Beitrag ist bereits 2014 in überarbeiteter Form an anderer Stelle erschienen (LÜCK, Rechtsbücher als ,private‘ Rechtsaufzeichnungen?, in: ZRG GA 131 (2014), S. 419 – 433).
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